Klaus Hansen war schon mehrere Male in diesen Räumen hier zu Gast. Der 1948 geborene Sozialwissenschaftler besucht seit der ersten Bundesliga-Saison bis heute die Spiele des MSV. Der Fußball ist ihm immer wieder Anlass zu Essays und literarischer Kunst. Mit etwas Abstand zur Fußball-WM dachte er darüber nach, was sich aus dem dort zu erlebenden Geschehen über die Entwicklung des Fußballs sagen lässt. Einmal mehr der Dank an Klaus Hansen für seine Gedanken über den Fußball.
Bitte schön!
Additional Time als Teil der Kommodifizierung des Fußballspiels
Einige Erkenntnisse nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2022
Von Klaus Hansen
Schlagzeile vom 23. 11. 22: „Tor für die Niederlande in der 99. Minute und Elfmeter für den Iran in der 13. Minute nach Ablauf der regulären Spielzeit.“ – Fußball ist seit der WM in Katar ein Spiel, das aus zwei Halbzeiten und einer Nachspielzeit besteht. Wenn man von „regulärer Spielzeit“ spricht, so muss man bei der „Additional Time“ von „irregulärer Nachspielzeit“ sprechen. Die Kommentatoren tun es nicht. Dieser Regelbruch ist nun zur Gewohnheit geworden und auf dem Weg, zur Norm zu werden.
Bei vielen Wettkampfspielen diktiert das Geschehen die Zeit; bei Spielunterbrechungen wird auch die Uhr angehalten. Ein 60-minütiges Eishockeyspiel kann 110 Minuten dauern. Beim Hand- und Basketball ist es nicht anders. Anders ist es beim Fußball. Hier diktiert die Zeit das Geschehen. Nach 90 Minuten hat Schluss zu sein, auch wenn die „Nettospielzeit“ nur 60 Minuten betragen hat; auch wenn die seit der 70. Minute in Führung liegende Mannschaft die Kunst der „Zeitschinderei“ pflegt, um mit Lug und Trug das Ergebnis „über die Zeit zu retten“. Nach 90 Minuten hat Schluss zu sein. Das ist die Regel.
Seit die Regelwut uns den „Videobeweis“ beschert hat, gibt es nun in jedem Fußballspiel unverschuldete Unterbrechungen, die man nach Sekunden und Minuten messen und am Ende der Spielzeit draufsatteln kann. Nun hat die FIFA in Katar weitere Zeitvorgaben gemacht: Ein Torerfolg mit anschließendem Torjubel schlägt nun mit 90 Sekunden zu Buche; für die Auswechslung eines Spielers werden 30 Sekunden veranschlagt. Für Verletzungspausen hat man noch keine Pauschale festgelegt, hier verlässt man sich auf das Feingefühl des Referees. Vom Pferdekuss bis zum Herzstillstand: Alles hat seine Nachspielzeit. „Das Publikum bekommt nun mehr für sein Geld“, kommentiert lapidar die FAZ. Die Zeitung hat Recht. Darum geht es.
Seit man entdeckt hat, dass die Zeit zwischen dem Ende der 90. Minute und dem endgültigen Abpfiff für den Fußballkonsumenten eine besondere Zeit mit einem besonderen Zauber ist, arbeitet man an der Ausdehnung dieser Spanne. Das Ziel der Fußballvermarkter ist es, den Zuschauern „das größtmögliche Spektakel zu bieten“ (Luigi Collina, Chef der FIFA-Schiedsrichterkommission). Das ohnehin attraktive Spiel soll noch attraktiver, sprich: geldwerter werden.
Als in Katar die Vorrunde vorüber war, begann eine Zwischenbilanz mit dem Satz: „48 von 64 Spielen sind gespielt.“ Aber stimmt das? 48? Wenn man genau hinschaut, sind es fast 54 Spiele, die absolviert worden sind. Denn auf 525 Minuten addierte sich die Nachspielzeit aller 48 Begegnungen, also fast sechsmal 90 Minuten.
Eine Frage der Spannung
Was verkauft die FIFA eigentlich, wenn sie Fußballspiele verkauft? Sie verkauft eine eigentümliche Spannung, die es so bei anderen Spielen nicht gibt. (Warum ist der Kunde so spannungsbedürftig, könnte man fragen. Aber das ist eine andere Frage, die man auch den Millionen von täglichen Krimi-Zuschauern stellen kann, die ohne den am Mord- und Totschlag aufgehängten Thrill nicht auszukommen scheinen.)
Welche Spannung ist es, die das Fußballspiel für Abermillionen so anziehend macht?
Eine Leistungsspannung, wie sie die Leichtathletik auszeichnet, ist es nicht. Eine solche Spannung liegt vor, wenn ein Springer, Werfer oder Läufer versucht, einen bestehenden Rekord zu brechen. Die Zuschauer kennen die Marke und sind gespannt, ob der Athlet sie übertreffen kann oder nicht. Aber auch jeder gewöhnliche Wettlauf wird am Ende durch eine messbare Leistungsüberlegenheit entschieden, nicht durch Zufall oder einen Maulwurfshügel in der Laufbahn.
Eine hollywoodreife Suspense-Spannung ist es auch nicht: Man sieht die brennende Lunte, die unter den Tisch führt, an dem viele Menschen sitzen, weiß aber nicht, wann und ob überhaupt etwas passieren wird.
Die Dramatik des Fußballspiels beruht auf einer anderen Art von Spannung, der so genannten Zufallsspannung. Unvorhergesehenes und Überraschendes ist jederzeit möglich und nicht berechenbar, weder durch die vorausplanenden Trainer noch durch die agierenden Spieler. Einem Fußballspiel zuzusehen bedeutet, nie zu wissen, bis zum Schlusspfiff nicht, ob der Höhepunkt schon da war oder erst noch kommen wird. Diese Zufallsspannung haben wir auch bei anderen Ballsportarten, aber beim Fußball ist sie am größten, weil er der einzige Sport ist, der die Beherrschung elastischer Kugeln nicht den Händen, sondern den Füßen anvertraut. Füße aber können viel weniger als Hände. Darum misslingen Zuspiele auf engstem Raum, leere Tore werden verfehlt, Elfmeter gehen in den Himmel und statt den Ball zu treffen, tritt man ein Loch in die Luft oder bleibt mit dem Fuß im Boden stecken. Selbst den Meisterspielern unterlaufen solche Böcke. Wetter und Bodenbeschaffenheit tun ein Übriges, um den Fußball unberechenbarer als alle Sportarten zu machen, die auf Parkett und mit der Hand gespielt werden. Zufall, Glück und Pech führen im Fußball ein einzigartiges Eigenleben. Dieses spezifische Spannungspotenzial des Fußballspiels ist sein Alleinstellungsmerkmal und größtes Kapital. Damit macht die FIFA ihre Profite.
Kommodifizierung
Die künstliche Verlängerung des Spiels durch die Additional Time ist Teil einer Entwicklung, auf die der Begriff der „Kommodifizierung“ zutrifft. Mit Kommodifizierung soll der Prozess des Zur-Ware-werdens eines Dinges, einer Sache oder eines Menschen bezeichnet werden. Im Bereich des Fußballspielermarktes werden Fußballer wie Waren bepreist, gekauft, verkauft und verliehen. Das ist offensichtlich. Nicht ganz so offensichtlich ist die Kommodifizierung des Spiels selbst: Wie verändert sich das Fußballspiel unter dem Einfluss seiner Kommerzialisierung? Was wird aus dem Spiel, wenn es immer mehr zur fernsehtauglichen Ware wird?
Die Additional Time mit der nun in Katar erreichten Ausführlichkeit ist der vorläufige Schlusspunkt einer seit den 1990er Jahren forcierten Kommodifizierungswelle und gehört in eine Reihe mit mindestens fünf Änderungen in den letzten 30 Jahren:
1992 wurde die
„Rückpassregel“ verändert:
Um weniger Leerlauf und mehr Action ins Spiel zu bringen, denn auf dem Bildschirm des Fernsehfußballs muss immer etwas los sein, hat man 1992 die „Rückpassregel“ novelliert. Bis dahin durfte man 100 Jahre lang den Ball zum eigenen Torwart zurückspielen, und der durfte die Kugel dann mit den Händen aufnehmen, sie vor sich hin wiegen, einige Male auftippen und dann in aller Seelenruhe abschlagen. Jetzt darf der Goalie den Rückpass nur noch mit dem Fuß berühren und weiterkicken. Das geht schneller und ist, bei der fußballerischen Unbeholfenheit so mancher Ballfänger, riskanter, – und schon sind ein paar Minuten an „Nettospielzeit“ plus Spannung hinzugewonnen. Die Ware Fußball ist wertvoller geworden.
1995 wurde die
„Dreipunkteregel“ eingeführt:
Statt zwei Punkte für einen Sieg, gibt es seit 1995 nunmehr drei. Bei einem Unentschieden erhalten beide Teams je einen Punkt; man „lässt also zwei Punkte liegen“, wen man nur remis spielt. Der torreiche Angriffsfußball soll animiert werden. Der im Netz zappelnde Ball ist fernsehgerecht, nicht die vor dem Strafraum aufgebaute Mauer. Eine Mannschaft, die von den 34 Spielen einer Saison keines verliert, steigt dennoch ab, wenn sie 34mal remis gespielt hat, denn mit 34 Punkten schafft man in der Regel nicht den Klassenverbleib. – Das Unentschieden und die Moral der Punkteteilung haben seit 1995 an Wert verloren und damit die Ware Fußball wertvoller gemacht.
- 2005 wurde das „passive Abseits“ beschlossen:
Obwohl ein Spieler im Abseits stand, kann das Tor dennoch zählen, wenn es sich um eine „passive“ Abseitsstellung gehandelt hat. Wieder geht es darum, mehr Tore ins Spiel zu bringen, weil mehr Tore mehr Attraktivität bedeuten, so die herrschende, aber nicht von allen Fans geteilte Meinung. Der Preis: Für den Schiedsrichter wird die Entscheidungsfindung schwerer. Technische Hilfsmittel drohen unverzichtbar zu werden. Fußball war einmal ein einfaches Spiel. Nun wird es für alle Beteiligten, auch für die Zuschauer, immer komplizierter.
- Seit 2006 pflegt man das „Mehrballsystem“:
Über 100 Jahre war es Gesetz, dass nur mit einem Ball gespielt werden durfte, dem, mit dem der Anstoß ausgeführt wurde. Nur wenn der kaputt ging, konnte er ersetzt werden. Landete der Ball im Aus, hatten die Balljungen oft lange Wege, um ihn wieder zu besorgen. Das dauerte. Heute gilt das „Mehrballsystem“. Rund ums Spielfeld stehen Bälle zur Verfügung, die blitzschnell den Ausball ersetzen, so dass ein Einwurf kaum mehr eine Unterbrechung bedeutet, sondern, im Gegenteil, zum Beschleunigungsfaktor wird. Heute kann es passieren, dass in einem Spiel 15 Bälle zum Einsatz kommen.
- 2022 wurde die „Auswechslungsregel“ novelliert:
Bis 1967 waren Auswechslungen im Fußball nicht möglich. Auch ein verletzter Spieler durfte nicht ersetzt werden. Dann änderte man die Regel aus „humanitären Gründen“. Erst war es ein verletzter Feldspieler pro Mannschaft, der kompensiert werden durfte, dann wurden es zwei. Das galt bis 1994. Ab 1995 wurde die Zahl auf drei erhöht und die Restriktion „verletzungsbedingt“ gestrichen. Seit 2022 sind nun fünf Feldspieler-Auswechslungen pro Spiel möglich. Ein Trainer kann also während eines Spiels die Hälfte seiner Mannschaft nach Gutdünken austauschen. Dadurch soll das Spiel, so die Hoffnung, seine hohe Intensität bis zur immer weiter hinausgezögerten Schlussminute beibehalten, was der Spannung zu Gute kommt.
Die Kommodifizierung des „Rahmens“, in dem Fußballspiele stattfinden, ist ebenfalls seit langem im Gange. Man denke an die Stadionarchitektur: Heranrücken der Zuschauertribünen ans Spielfeld durch Wegfall der Laufbahnen; Überdachung und Versitzplatzung; Gastronomie und Hygiene etc. Was „Stadion“ hieß, heißt jetzt „Arena“, die „Kampfbahn“ ist zum „Wohnzimmer“ geworden.
Das je einzelne Spiel ist eingebettet in eine „Show“, bestehend aus „Cheerleaders“, „Einlaufkindern“, „Hymnen“, „Countdowns“ etc. Katar hat gezeigt, wie man gekaufte Claqueure als „Fans“ verkleidet und auf die Pauke hauen lässt. Dass die im Stadion herrschende „Bombenstimmung“ eine natürliche und authentische ist, kann nicht mehr vorausgesetzt werden.
Ausblick
Eine nächste Maßnahme der Kommodifizierung könnte die Abschaffung des Unentschiedens sein, so dass in jedem Spiel ein Sieger ermittelt werden muss. Zur regulären Spielzeit und irregulären Nachspielzeit kommen dann noch „Verlängerung“ (2 x 15 Minuten) und „Elfmeterschießen“ (ca. 20 Minuten) als Bestandteile eines jeden Spiels hinzu. Fußballspiele werden zu zweieinhalbstündigen Abenteuern.
Auch eine grundsätzliche Änderung des Zeitmanagements wird wahrscheinlich: Zukünftig könnte im Fußball, wie in den anderen großen Ballsportarten auch, das Spiel die Zeit bestimmen und nicht umgekehrt. Dann würde sich das Überwachungswesen um mindestens noch um ein bis drei Personen erhöhen: Neben die drei Regelhüter auf dem Platz, dem „Vierten Offiziellen“ zwischen den Trainerbänken, dem Video-Referee und seinen drei Assistenten vor den Monitoren kämen dann noch ein bis drei „Zeitrichter“ hinzu, so dass die Mannschaft der Regelhüter die Elfzahl der aktiven Spieler erreicht. Fußball wäre dann endgültig zu einem Spiel geworden, das nicht mehr von zwei, sondern von drei Mannschaften gespielt wird. Er hätte dann nur noch wenig mit dem Fußball der Anfangsjahre zu tun, bei dem es überhaupt keinen Schiedsrichter gab, weil die Mannschafskapitäne beider Teams alle Konflikte untereinander regelten.
Die Kommodifizierung des Fußballs setzt alle Hebel in Bewegung, um das nachgefragte Gut „Zufallsspannung“ noch besser zur Geltung zu bringen, damit noch mehr „Kunden“ gewonnen werden. Und die bereits vorhandenen Kunden, die nicht eigens geworben werden mussten? Werden sie dieses Marketing mitmachen? Wohl eher nicht. Ihr „Reclaim the Game“ wird verhallen und sie werden den Weg alles Irdischen gehen und aussterben.
Einem Fußballspiel beizuwohnen heißt nicht nur Spannung zu genießen. Der wahre Fußball-Fan mag nicht nur den Fußball als Spiel, er mag viel mehr noch den Verein, der es spielt und mit dem er durch dick und dünn zu gehen verspricht. Fußball heißt Identifikation, Anteilnahme und Idolisierung: Mitfiebern mit einer Mannschaft und Vergöttern von Spielern. Wird diese „Liebe“ schon im Kindesalter begründet, hält sie oft ein Leben lang. Die Spannung, die sich aus der Ungewissheit des Ausgangs eines jeden Spiels ergibt, ist also verbunden mit der Hingabe an ein „Liebesobjekt“, das man nicht verlieren und leiden sehen will. Daher die oft an Hysterie grenzende Leidenschaft der Fans, die das Bild des Fußballs in der Öffentlichkeit prägt. Aber braucht die Ware Fußballspiel diese Hingabe fanatischer Anhänger?
Die Befürchtung, dass die gewachsene, „echte“ Leidenschaft der Fans auch der Kommodifizierung unterliegen könnte, ist nicht unberechtigt. Bei den „Geisterspielen“ während der Corona-Phase ersetzte man das leidenschaftliche Publikum im Stadion durch Pappkameraden auf den Plätzen und Gejohle aus der Ton-Konserve. Auch „Stimmung“ kann zur Ware werden. Die „Geisterspiele“ waren spielerisch und kämpferisch nicht schlechter als die Spiele mit Publikum. Das Fußballspiel selbst bedarf also nicht unbedingt des Supports leibhaftiger Fans. Aber der Fernsehzuschauer und Großfinanzier des Profitfußballs möchte stimmungsvolle Stadion-Bilder sehen. Und die können heute auch ohne Fans hergestellt werden.
Die alten Fans werden überflüssig, zumal sie unzuverlässiger und widerborstiger sind als gehorsame Pappkameraden und Beifallsstürme vom Band. Die neuen Fans des kommodifizierten Fußballs werden andere sein als „Kutten“, „Hools“ und „Ultras“, die wir heute kennen. Andere Namen werden auftauchen, „Event-Hopper“ und „Huhu-Macher“ vielleicht, „Selfie-Selfisher“ und „Adabeis“. Semi-professionelle Stimmungs-Komparsen sorgen auf den Tribünen für das, wofür die Cheerleaders auf dem Rasen zuständig sind: gute Laune und das Vergessen der Welt da draußen. „Eskapismus!“ wird man rufen, „was denn sonst“, wird man antworten und sich an Enzensberger erinnern, „bei diesem miserablen Zustand der Welt!“
Das war Katar
Wetter tadellos und für alle gleich. Optimaler Hybridrasen in allen Spielstätten. Kurze Wege. An-und Abfahrten zu den Arenen reibungslos. Keine Hools. Keine Schlägereien. Kaum Alkohol. Und sauber, alles klinisch sauber. Selbst die Spieler blieben sauber wie nie: Nur ein Platzverweis in 64 Spielen. – „Katar“ war ein Ausblick in die Brave New World des rundum kommodifizierten Fußballs, eines spieltechnisch guten, aber leidenschaftsarmen Spiels.
Weiterlesen...